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Schmetterling und Taucherglocke

Jean-Dominique Bauby: Schmetterling und Taucherglocke. Quelle: 👉 dtv.

In seiner Memoire Schmetterling und Taucherglocke aus dem Jahr 1997 beschreibt der französische Journalist und Chefredakteur Jean-Dominique Bauby seine Existenz vor und nach einem Ereignis, das sein Leben von einem Tag auf den anderen für immer veränderte. Am 8. Dezember 1995 erlitt er einen massiven Schlaganfall, von dem er zwei Wochen später komplett gelähmt aus dem Koma erwachte. Er konnte danach nur noch seinen Kopf ein wenig bewegen, grunzen, und mit seinem linken Augenlid blinzeln. Dieses seltene Phänomen bezeichnet man als 👉 Locked-in-Syndrom. Darunter litt beispielsweise auch der renommierte Physiker 👉 Stephen Hawking.

Bauby beschrieb sich in dieser schweren Zeit als geistig aktiv und frei wie ein Schmetterling, aber physisch eingeschlossen wie in einer Taucherglocke. Um dennoch irgendwie mit seiner Aussenwelt kommunizieren zu können, entwickelte er ein raffiniertes Verfahren das er wie folgt beschreibt:

«Das Verfahren ist ziemlich rudimentär. Man buchstabiert mir das ABC in der ESA-Version, bis ich meinen Gesprächspartner mit einem Blinzeln bei dem Buchstaben anhalte, den er sich notieren soll.
So geht es mit den folgenden Buchstaben weiter, und wenn kein Fehler passiert, erhält man ziemlich schnell ein ganzes Wort, dann mehr oder weniger verständliche Satzteile.»

— Bauby: Schmetterling und Taucherglocke, S. 22 f.1

Bauby diktierte seine Worte also Buchstabe für Buchstabe. Sein Gegenüber sagt dazu für jeden Buchstaben so lange das Alphabet auf, bis er blinzelt, um den zuletzt genannten Buchstaben "auszuwählen".

Mit dem "ABC in der ESA-Version" meint Bauby eine neu angeordnete Version unseres Alphabets, die folgendermassen aussieht:

ESARINTULOMDPCFBVHGJQZYXKW

Der Grund für diese Umstellung ist gleichermassen simpel und genial: In der französischen Sprache - Baubys Muttersprache - kommt der Buchstabe E mit einem Anteil von ungefähr 15.1% mit Abstand am häufigsten vor. Den zweiten Platz belegt der Buchstabe S mit etwa 7.9%, gefolgt von A mit etwa 8.1%, und so weiter.2

Angenommen Bauby möchte nun das Wort train diktieren. Mit unserem klassischen ABC würde der Buchstabierprozess dazu ungefähr so aussehen:

A-B-C-D-E-F-G-H-I-J-K-L-M-N-O-P-Q-R-S-T
A-B-C-D-E-F-G-H-I-J-K-L-M-N-O-P-Q-R
A
A-B-C-D-E-F-G-H-I
A-B-C-D-E-F-G-H-I-J-K-L-M-N

Mit dem für die französische Sprache optimierten ESA-Alphabet geht das aber viel effizienter:

E-S-A-R-I-N-T
E-S-A-R
E-S-A
E-S-A-R-I
E-S-A-R-I-N

Selbstverständlich funktioniert das nicht immer gleich gut. Bei einigen Worten wird das ESA-Alphabet auch zu einem längeren Buchstabierprozess führen als das herkömmliche ABC. Auf Dauer, und gerade für längere Gespräche und Diktate, konnte er so aber sehr viel Zeit sparen. Bedenken Sie: Bauby hat mit dieser Methode ein ganzes Buch diktiert!

Leider verstarb Jean-Dominique Bauby am 6. März 1997, nur drei Tage nach der Veröffentlichung von Schmetterling und Taucherglocke, an einer Lungenentzündung3. Welche Bedeutung dieses Buchstabierverfahren bis dahin für ihn hatte, soll abschliessend folgende Textstelle zeigen:

«So kann man den Trost ermessen, den es für mich bedeutet, wenn Sandrine [die Logopädin, die das Verfahren fliessend beherrscht] zweimal am Tag an die Tür klopft, mit einem Schnütchen wie ein ertapptes Eichhörnchen hereinschaut und auf einen Schlag alle bösen Geister vertreibt. Die unsichtbare Taucherglocke, die mich ständig umschließt, erscheint dann weniger bedrückend.

— Bauby: Schmetterling und Taucherglocke, S. 421

Footnotes​

  1. Bauby, Jean-Dominique. Schmetterling und Taucherglocke. Aus dem Französischen von Uli Aumüller, dtv, 2023. ↩ ↩2

  2. Quelle: 👉 sttmedia.com ↩

  3. Quelle: 👉 nzz.ch ↩